INUAS-Fachtagung „Kriminalprävention durch Leseprojekte“
Im Gleichwertigkeitsbericht der Bundesregierung* rangiert das Sicherheitsgefühl auf Rang 3 der von der Bevölkerung am häufigsten genannten Kriterien für regionale Lebensqualität. Das Gefühl, vor Kriminalität geschützt zu sein, wird also direkt nach den Aspekten der guten Gesundheitsversorgung und des bezahlbaren Wohnraums, genannt (ebd. S. 87).
Gerade in den Metropolen München und Wien wurde das Sicherheitsgefühl in jüngster Zeit aber durch zahlreiche Berichte über einen deutlichen Anstieg der Kinder- und Jugendkriminalität, insbesondere im Bereich der Gewaltdelinquenz, negativ beeinflusst. Die von der Beck Stiftung, dem Verein Ethica rationalis e.V. und dem Förderverein KonTEXT Leseprojekt e.V. mit großzügigen Spenden unterstützte INUAS-Fachtagung „Kriminalitätsprävention durch Leseprojekte“ bewegte sich damit im Kernbereich des Themenschwerpunkts „Urbane Lebensqualität“ des INUAS-Hochschulverbundes.
Zusammenhängen zwischen Bildung und Delinquenz
Rund 80 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und Praktikerinnen und Praktiker aus ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz diskutierten zwei Tage lang über die Potenziale von Leseprojekten zur Kriminalitätsprävention, Kompetenzförderung und Wertebildung. Den Auftakt bildete der Vortrag des Leiters des kriminologischen Instituts an der ZHAW, Dirk Baier, der die in den Polizeistatistiken der drei Länder ausgewiesenen Zahlen zur Entwicklung der Jugendkriminalität im Einzugsbereich des INUAS-Verbundes aus kriminologischer Perspektive beleuchtete und Forschungsergebnisse zu den Zusammenhängen zwischen Bildung und Delinquenz präsentierte.
Angesichts der von ihm aufgezeigten Korrelationen zwischen niedrigen/fehlenden Schulabschlüssen, Schulabsentismus/ vorzeitigen Schulabbrüchen und Inhaftierungsrisiko gewannen die anschließend von der Leiterin des Instituts für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen präsentierten neuesten Zahlen zur weiteren deutlichen Zunahme von Leseschwächen bei Kindern- und Jugendlichen besonderes Gewicht: Mehr als 25% der 15-Jährigen verfügen nach den Ergebnissen der jüngsten PISA Studie über keine ausreichende Lesekompetenz, sind damit stark gefährdet, die Schule ohne Bildungsabschluss zu verlassen und in die Gruppe der jungen Menschen mit erhöhtem Delinquenzrisiko zu fallen.
Bereits an dieser Stelle deuteten sich die Chancen von Leseprojekten an, die anschließend in drei Workshops zu den Leseprojekten des Jugendamts Dresden, der Hochschule München (HM) und der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) diskutiert wurden. Hier – wie schon während der Vorbereitung der Tagung – zeigte sich, dass die Idee von Leseprojekten in Deutschland inzwischen bundesweit Schule gemacht hat und in den letzten Jahren vielerorts Angebote für Lesemaßnahmen mit straffällig gewordenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen entwickelt wurden. Allerdings zeigte sich auch, dass die konkreten Projektansätze vor Ort stark divergieren. Ferner wurde von vielen Jugendämtern bereits im Vorfeld der Tagung der Wunsch nach Unterstützung beim Aufbau von Leseprojekten artikuliert. Insgesamt wurde ein dringender Bedarf für eine Vernetzung und eine dadurch ermöglichte Entwicklung von Qualitätsstandards sichtbar. Die drei Hochschulen können hier auf der Grundlage ihrer Expertise und – im Fall der HM – langjährigen eigenen Praxiserfahrungen eine zentrale Rolle übernehmen.
Durch Lesen Perspektivübernahmen anregen
Welchen wichtigen Beitrag die Hochschulen dadurch auch zur Demokratiebildung bei jungen Menschen leisten könnten, verdeutlichte der Vortrag des Konflikt- und Gewaltforschers Andreas Zick zu Beginn des zweiten Tages der Tagung. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse der unter seiner Leitung im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführten „Mitte-Studie“ (2023) zu rechtsextremen und demokratiegefährdenden Einstellungen in Deutschland forderte er ein Leseprojekt für die Mitte der Gesellschaft und entpuppte sich im weiteren Verlauf seines Vortrags als vehementer Befürworter von Leseprojekten, wie sie an der HM und der ZHAW praktiziert werden. Durch Lesen und Literatur könne die Auseinandersetzung mit Rassismus, Klassismus, Sexismus und Antisemitismus gefördert, Perspektivenübernahmen angeregt, Hoffnung und Selbstwirksamkeit vermittelt, Vertrauen in andere gestärkt und verletzte Würde wiederhergestellt werden.
Voraussetzung für derartige Effekte ist allerdings ein richtiger Rahmen für die Aneignung von literarischen Texten und die anschließende Auseinandersetzung mit diesen im Rahmen von Gesprächen mit den jeweiligen Teilnehmenden. Hierfür lieferten der nachfolgende Vortrag von Sabine Anselm, der Leiterin der Forschungsstelle für Werteerziehung und Lehrer:innenbildung an der LMU, und die daran anknüpfenden Workshops mit weiteren namhaften Sprach- und Literaturdidaktikerinnen wichtige Impulse und Hilfestellungen.
Groß war das Lob in der abschließenden Auswertungsrunde über das Gesamtprogramm, die hohe Qualität der einzelnen Beiträge, die inhaltlichen Inputs und Diskussionsmöglichkeiten in den Workshops sowie die Organisation der Veranstaltung. Die Basis für den Aufbau eines Deutschland, Österreich und die Schweiz umspannenden Netzwerks wurde gelegt. Damit wurde zugleich ein Rahmen für einen weiteren Erfahrungsaustausch und die Entwicklung von Qualitätsstandards geschaffen, wie sie allen Beteiligten notwendig erscheinen. Ein Tagungsband ist in Vorbereitung.
* Gleichwertigkeitsbericht der Bundesregierung
Prof. Dr. Caroline Steindorff-Classen, Hochschule München
INUAS-Fachtagung „Kriminalitätsprävention durch Leseprojekte“
- INUAS_Fachtagung_Flyer (pdf 1.6 MB)